Ein Tag erfüllt von Glück und Dankbarkeit.
Wenige Tage vor dem ersten Advent, binde ich voller Ruhe einen Adventkranz. Eine seltsame Ruhe, ich bin gefasst, schiebe eine übergroße Kugel vor mir her, sehe zu, dass der Adventkranz fertig wird und packe danach intuitiv eine Reisetasche. In einer Stunde habe ich eine Routinekontrolle im Krankenhaus, noch rund 8 Wochen bis zum errechneten Geburtstermin der Zwillinge, also noch viel Zeit bis dahin. Eine seltsame Ruhe, weil eigentlich bin ich nervös, die letzten Tage sind schon sehr anstrengend gewesen, nur auf einer Seite darf ich liegen, um Dorian vom Gewicht Valerians, der auf ihm sitzt und ihn in mein Becken drängt, zu entlasten, bereits Wochen zuvor hieß es, dass Dorinas Kopf und dementsprechend auch sein Gehirn sehr darunter leidet. Und Dorian ist ruhig geworden, zu ruhig für meinen Geschmack, er reagiert nicht mehr auf meine Zusprüche, Bewegungen und Streicheleinheiten, er kann sich auch kaum mehr bewegen, eingeklemmt zwischen meinem Beckenknochen und Valerian.
Es klingelt, eine Freundin bringt mich ins Krankenhaus. Ich muss auch gar nicht lange warten, wie angenehm, sitzen mit dem Doppelpack in mir ist mühsam, wie eigentlich alles andere auch, Zwillinge bei einer Größe von 158 cm auszutragen keine Leichtigkeit, obwohl es mir in dieser Schwangerschaft eigentlich wundervoll ging, keine Komplikationen, alles bestens. Im Untersuchungszimmer ist viel los, rund 3 Ärzte und ein paar Schwestern, es wird geschallt. Zunächst ist Valerian dran, ihm geht’s prima, alles in bester Ordnung, auch im Dopplerschall und bei weiteren Untersuchungen. Und dann kommt einer der Momente, die ich nie vergessen werde – während Dorian untersucht wird, wird es auf einmal ganz ruhig im Raum, ein Tuscheln ist den Ärzten zu entnehmen. Und während mir einer der Ärzte den Ernst der Lage unterbreitet verliere ich mich ganz plötzlich, als würde ich mich auflösen – alles klingt wie von weit weg, wie in Zeitlupe vernehme ich, dass es Dorian ganz schlecht geht. Seine Blutwerte sind absolut kritisch, er ist sichtlich gestresst, er bekommt keine Versorgung mehr über die eine Plazenta und das wohl schon seit Tagen. An den genauen Wortlaut kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern, ich weiß nur, dass es einem meiner Söhne in mir schlecht geht, dass er es vielleicht nicht schaffen wird. Wie es mir in diesem Moment geht, kann ich auch nicht beschreiben, man findet dafür keine Worte.
Ich kann für Daheim noch einige Dinge regeln, werde sofort stationär aufgenommen. Bevor die beiden Jungs geholt werden, sollen sie unbedingt noch die Lungenreifung bekommen, leider völlig umsonst, denn darauf, dass die Impfung ihre Wirkung zeigt, bis zum nächsten Tag, können die beiden nicht mehr warten. Kurz nach der Schreckensnachricht bekomme ich heftige Wehen, es mag vielleicht dumm klingen, aber der Stress der letzten Stunden mag sie ausgelöst haben, zudem wollte ich immer, dass meine Jungs einfach mitbekommen, wann es hinaus in die Welt geht, nicht dass sie einfach ohne Vorwarnung geholt werden. Mein Mann wird verständigt und kann sogar einrichten schnell bei mir zu sein. Die Ärzte sind sich sicher, dass die Cerclage die Wehen ausgelöst haben und entfernen diese. Dann geht alles sehr schnell, während ich auf die OP vorbereitet werde, werden binnen weniger Minuten die Wehen stärker. Mein Arzt ist sichtlich beunruhigt, die Wehen sind eindeutig zu heftig und zu viel Stress für Dorian. Der Muttermund ist plötzlich vollständig offen. Die Fruchtblase platzt und Valerian schickt sich bereits an mit den Beinen voran zur Welt zu kommen. Im Krankenhaus wissen sie von der letzten schnelle Entbindung Tristans, so darf das hier nicht passieren - Wehenhemmer und Valerian wird zurückgeschoben in die Gebärmutter und ich in den OP. Auch dort geht alles sehr schnell, nach wenigen Minuten lautes Geschrei und gleichzeitig Gelächter. Valerian hat sich an der Nabelschnur festgekrallt, dem Arzt sogar die Klammer aus der Hand gerissen und will sie nicht mehr hergeben, sichtlich ist ihm nicht recht was hier passiert. Wenige Minuten später bringt man ihn mir – Glückseeligkeit – ich stupse mit meiner Nase an die seine, beschnuppere und liebkose ihn - heiße ihn willkommen - ein wundervoller Augenblick. Kurz darauf folgt noch einer, den ich nie mehr vergessen werde – plötzlich völlige Stille im OP – kein Geschrei – kein Gelächter – keine aufmunternden Worte – nichts. Ich frage nach Dorian und erfahre, dass er bei den Neoärzten ist. Mehr nicht. Eine Ewigkeit vergeht. Ich frage mehrmals nach ihm, bekomme aber keine Neuigkeiten, um mich herum versuchen alle mich zu vertrösten, aber die Spannung im Raum ist greifbar. Mein Held wird mir nachher berichten, dass er den Anblick Dorians, als er an ihm vorbei getragen wurde, nicht ertragen konnte, er dachte wirklich, dass er es nicht geschafft hat. Aber Dorian erweist sich als kleiner Kämpfer. Eine halbe Stunde nach Valerian, darf ich endlich Dorian begrüßen – ein Häufchen Elend und sehr schwach - ganz behutsame rede ich ihm zu – er öffnet zaghaft seine Augen, um sie sofort wieder zu verschließen. Wie es mir jetzt geht kann ich nicht beschreiben. Die Angst ein Kind so zu verlieren ist sicherlich das fürchterlichste Gefühl das man haben kann und das Empfinden, dass man diesen kleinen Wurm, um den man eben noch bangte, nun begrüßen darf ist noch unbeschreiblicher. Zum Platzen, einfach zum Platzen, diese riesige Blase an Gefühlen, die sich angestaut haben, platzt einfach auf.
Der 241105 ist also mit Glückseeligkeit verbunden und mit unendlicher Dankbarkeit und dem Glück, dass mein Kontrolltermin eben an diesem Tag und keinen einzigen Tag später stattgefunden hat!
Valerian war gleich fit, für die Schwangerschaftswoche gut entwickelt, am 12. Tag durfte ich mit ihm die Klinik verlassen. Dorian blieb noch weitere 3 Wochen auf den Neo, in denen ich ihn jeden Tag mehrmals mit Valerian gemeinsam besuchte. Am 3.12 durften die beiden endlich wieder, wenn auch nur kurz auf der Neostation nebeneinander liegen. Dorian musste alles aufholen und lernen. Plazenta bedeutet eben nicht nur Nahrung sondern einfach jegliche Entwicklung punkto Atmung, Temperatur etc. Valerian hatte von der Plazenta in den letzten beiden Wochen alles für sich beansprucht und nichts für seinen kleinen Bruder übrig gelassen. Zusätzlich war Dorians Kopf ganz schlimm verformt, ganz flach gedrückt von Valerians Gewicht, aber zum Glück ohne spätere gesundheitliche Konsequenzen.Und bereits nach den ersten Tagen, als wir uns daran gewöhnt haben, dass unser Kleinster ganz verkabelt im Inku liegt, haben wir ihm versprochen, dass er es ihm eines Tages zurück zahlen darf. Und ratet mal, was er jetzt tut? Genau das. Valerian zieht überall den Kürzeren, er gibt aber auch eher zu Gunsten seines Bruders nach. Dorian erkämpft sich alles und jedes und weiß auch ganz sicher, ob seiner Macht.
Kurz vor Weihnachten durfte dann auch Dorian nach Hause - was für ein Fest!
Unsere zwei Frühchen haben sich ganz toll entwickelt. Wenngleich Dorian bis heute noch nicht alles punkto Gewicht und Größe aufgeholt hat - nach dem ersten Jahr betrog der Gewichtsunterschied fast 4 kg! - jetzt ist es nur mein ein Kilogramm, punkto Größe hat er endlich gleichgezogen. Und auch sein Kopf ist immer noch deutlich schmäler, auch sein Gesichtsfeld erscheint dadurch ganz anders, das wird sich wohl, laut Ärzten, auch nicht mehr ganz auswachsen. Völlig egal, er ist gesund, er hat keine sonstigen Schäden dadurch davon getragen.
Und jeden Tag erfüllt mich Dankbarkeit sie beide zu haben.
edit: Die Bedeutung der Namen unserer Jungs passt haargenau zu ihnen, Valerian, der Mächtige, Dorian das Geschenk. Wie passend, umgekehrt könnte es gar nicht sein. Dorian war wirklich ein Geschenk am 24.11.2005
Nach diesem unmotivierten Ausflug 3 Jahre zurück, hier noch ein paar Bilder der ersten Wochen, falls ihr denn noch bis hierhin gekommen seid;-)?
Nun sind sie heute also 3 Jahre alt. Wo ist die Zeit geblieben? Unglaublich!